Auch mit über 90 verkörperte sie immer noch, was den Hoteliersberuf ausmacht: Die Liebe zu den Menschen, die Leidenschaft für Ästhetik und Perfektion und die Bereitschaft, hart dafür zu arbeiten.
Sonntag, später Vormittag. Abreisetag. Menschen, Taschen, Koffer. Es herrschte Gedränge vor der Rezeption. Ein schneller Blick über die Rechnung. Eine letzte Frage nach der Verkehrslage. Stau auf der Autobahn? Schaffen wir unseren Flug? Und irgendwo dazwischen war sie. Voller Elan, Anmut und Herzlichkeit machte sie die Runde. Egal, wem sie sich zuwendete, wem sie aufmerksam lauschte oder herzlich die Hände schüttelte, egal, wo sie stand oder ging. Die Grand Dame des ADLER war immer Mittelpunkt.
Wenig später saß Elfriede Sanoner, die alle Elly nannten, im Wintergarten. Sie trug eine blaue Trachtenjacke. Dezenter Schmuck, dezentes Make-up, himbeerfarbener Lippenstift. Das silberne Haar war perfekt toupiert. Wer es nicht wusste, schätzte sie um einiges jünger. Wer sie zum ersten Mal traf, war gleichsam überwältigt vom Charme und der Leidenschaft, mit denen sie erzählte. Von Andreas und Klaus, ihren Söhnen, und deren Frauen. Von Tochter Annemarie. Alle lobte sie. Unterstrich ihr Engagement und ihr unternehmerisches Geschick. Und freute sich, dass ihre vier Enkel längst signalisiert hatten, in den Betrieb einsteigen zu wollen.
Entspannt und zufrieden wirkte sie. Blickte über die Terrasse ins Tal und lächelte. Doch das täuschte ein wenig. Man sagte Elly Sanoner nach, dass sie ein untrügliches Auge für Ästhetik und Perfektion hatte. Dass sie keinen Makel übersah. Keine Falte im Teppich, keine verrutschte Tischdekoration. Kein Wunsch eines Gastes und keine konstruktive Anregung eines Mitarbeiters, die sie nicht ernst nehmen würde.
Über sechzig Jahre prägte sie damit die Geschichte des ADLER. Kaum ein An- oder Abreisetag, an dem Frau Elly ihren Gästen nicht die Honneurs machte. Ihre Gäste waren immer ihr Leben. Neben der Familie natürlich. Ob alles recht war, fragte sie.
Sie wuchs in Latsch im Vinschgau, in einfachen Verhältnissen, auf. Ihre Mutter musste nach dem frühen Tod des Mannes fünf Kinder durchbringen. Elly machte eine Ausbildung zur Sekretärin und lernte Englisch an der Berlitz-Schule. Sie arbeitete für die Gemeindeverwaltung, als ihr ein fescher Hotelierssohn aus Gröden einen Antrag machte. Josef Anton Sanoner, den alle Pepi nannten, war der Freund des Freundes ihrer Schwester. 1955 wurde geheiratet, und was danach kam, war keineswegs leicht für die junge Frau. „Ich kam nicht vom Fach“, sagte sie, „für mich war alles eine neue Erfahrung.“ Ihre Schwiegereltern beruhigten sie: „Wenn du’s falsch machst“, sagten Sepl und Fanny Sanoner, „dann lernst du aus den Fehlern.“ Außerdem habe sie“, sagte Elly, „vor lauter Arbeit gar keine Zeit gehabt viel nachzudenken“.
Südtiroler Hotels sind fast immer Familienbetriebe. Wobei die Männer meist repräsentieren, organisieren und die Zukunft planen, während die Frauen den Laden zusammenhielten. Außenminister und Innenminister. So war es auch beim jungen Ehepaar Sanoner. Pepi bekleidete zahlreiche Ämter. Fremdenverkehrsverein. Touristische und politische Landesgremien. Im Grödner Organisationskomitee kämpfte er um die Austragung der Skiweltmeisterschaften 1970. Auch als Bürgermeister von St. Ulrich setzte er sich für den Ausbau der Infrastruktur ein und prägte damit maßgeblich die Entwicklung des Ortes.
Elly fungierte im ADLER als Chefin, guter Geist, ordnende und helfende Hand. 15 - 16 Stunden am Tag. Unermüdlich. Immer bemühte sie sich um den bestmöglichen Service. „Wenn man etwas gerne hat“, sagte sie, „dann tut man es gern. Ich konnte schon immer gut mit Menschen umgehen, wer in diesem Beruf ist, muss Menschen mögen.“ Elly Sanoner erahnte und kannte die kleinen Wünsche und die großen Sehnsüchte ihrer Gäste. Galant bewegte sie sich auf dem schmalen Grat zwischen herzlicher Gastlichkeit und professioneller Distanz. Beim Personal wahrte sie die Balance zwischen Vertrauen, Toleranz und Autorität. Doch am meisten beeindruckte ihre verblüffende Gabe sich an, die Eigenheiten und persönlichen Geschichten ihrer Gäste über Jahre erinnern zu können. Elly wusste, was sie beruflich machten, was die Tochter studierte, wie viele Enkel sie hatten. „Einmal“, erzählte sie, „habe ich ein Ehepaar, das längere Zeit nicht mehr bei uns war, bei der Begrüßung gefragt, ob es denn noch den Waldi gäbe.“ Gemeint war der Dackel des Ehepaars. „Dass Sie das noch wissen!“, riefen die Gäste, zu Tränen gerührt. Natürlich hatte Frau Elly den Hund nicht vergessen. Er hatte ihr schließlich einmal die Bettdecke im Hotelzimmer zerbissen.
Es waren so viele Geschichten. Jahrzehnte zogen vorbei, wenn die Grande Dame des ADLER referierte. Die Fünfziger, „in denen es allen schlecht ging, keiner hatte Geld“. Die Sechziger, in denen infolge der Sprengstoffattentate in Südtirol die italienischen Gäste ausblieben. Die Siebziger, so Frau Elly, „waren besonders schwierig“. Ölkrise. Inflation. Kreditzinsen bis zu 30 Prozent. „Man ging mit Sorgen ins Bett und wachte mit Sorgen auf.“ Nicht zuletzt, weil ein Hotel ein Ort permanenter Veränderung ist. Ein Platz ständiger Renovierung und Innovation. Eine Baustelle, die nie fertig wird. Vor allem, wenn man wie das ADLER Hoteliersgeschichte in Südtirol schreibt. Pepi Sanoners Eltern hatten 1910 noch Werbung gemacht für Wannenbäder, elektrische Beleuchtung, Spülklosetts, Billard und französische Betten. Unter Pepis und Ellys Leitung setzte das ADLER Maßstäbe in Südtirol in Sachen Qualität, Komfort und Service, inklusive des ersten Hotelhallenbads und des ersten Spas in Gröden. Und ohne diese Vorarbeit wäre die Entwicklung zum heutigen Wellness und Sport Resort mit Wasserwelt, Fitness und Panorama-Bio-Heu-Sauna nicht möglich gewesen.
„Sie hat wahnsinnig viel gearbeitet“, sagt ihr Sohn Klaus, „Vater war oft nicht zu Hause, er war mehr der Planer und Entwickler.“ Eine Leidenshaft, die seine Söhne, wie Andreas Sanoner schmunzelnd gesteht, „offenbar geerbt haben“.
Eine Stunde, zwei Stunden vergingen, während Elly Sanoner erzählte. Natürlich ging es dabei auch um die Malerei, ihre große Passion, die sie entdeckte, als Pepi und sie die Geschäftsführung 1985 an ihre Söhne übergaben. „’Mama, bleib doch daheim’, sagten ihre Buben, ‚lass es dir gut gehen’.“ Schon in der Schule hatte sie gerne in die Arbeitshefte gemalt. Als Kind hat sie gerne in der Wiese gelegen, in die Wolken geguckt und darin Gesichter und Figuren erkannt. Warum also nicht einen Malkurs machen? Aus einem Malkurs wurden mehrere. Und heute schmücken zahlreiche ihrer faszinierenden, mitunterstark experimentellen bis abstrakten Bilder das ADLER in St. Ulrich. Für das ADLER Thermae in der Toskana hat sie in kürzester Zeit 100 großformatige Aquarelle angefertigt.
Man würde so gerne weiterfragen und zuhören. Doch da unterbrach Elly Sanoner ihre Erzählung. Ein junges Ehepaar schlenderte etwas unschlüssig durch den Wintergarten. Sie schauten nach links, schauten nach rechts. Frau Elly fragte: „Kann ich Ihnen helfen, suchen Sie einen Tisch …?“ So war das, wenn man Menschen mag und immer alles im Blick hat. Mögen andere sie als Mittelpunkt empfunden haben. Wenn es um den Gast ging, hat Elly Sanoner sich selbst stets als Nebensache betrachtet.